

9.3.2023
Mehrsprachigkeit ist nicht mehr die Ausnahme“
Sprachentwicklung. Logopädin Melanie Gaßner spricht im Interview mit „Die Wirtschaft“ über kindliche Sprache schon vor dem ersten Wort, Aufwachsen in Mehrsprachigkeit und Sprache als Basis für Ausbildung und Beruf.
Unsere Sprache beginnt vermutlich nicht erst mit dem ersten Wort …Wir wissen, dass schon ungeborene Babys hören können, das heißt, die Sprachmelodie wird bereits im Bauch der Mama wahrgenommen. Deshalb sind die Stimmen vor allem von Mama und Papa schon früh vertraut. Wenn ein Baby auf die Welt kommt, ist es in der Lage, alle Sprachen der Welt zu erlernen. Da es aber dann das Lautinventar – in unserem Fall von Deutsch – hört, schränkt sich sein Fokus darauf ein. Wir beobachten in der Entwicklung zuerst sogenannte Lallphasen, in denen die Babys vor sich hin brabbeln, ohne dass es noch einen verständlichen Inhalt darstellt. Also noch lange vor dem ersten Wort, welches meist um den ersten Geburtstag gesprochen wird.
Wie geht die Sprachentwicklung dann weiter?
Es kommen üblicherweise mehr und mehr Wörter hinzu. Wir beobachten einen sogenannten „Wortschatzspurt“ vor dem zweiten Geburtstag. Als nächstes werden zwei Wörter aneinandergehängt. Nun kommt die Grammatik hinzu, die verschiedenen Wortformen und Flexionen werden geübt. Das Kind lernt, Fragen zu stellen und von Ereignissen zu erzählen. Mit dem vierten Geburtstag schließlich sollen die Grundzüge der Grammatik erworben sein und alle Laute korrekt gebildet werden. Wichtig ist, dass diese zeitlichen Altersangaben immer ein Anhaltspunkt sind. Jedes Kind entwickelt sich in einem anderen Tempo. In der Logopädie schauen wir uns die
Gesamtentwicklung des Kindes an, um auch die Sprachentwicklung besser einschätzen zu können.
Und wie ist es, wenn ein Kind zwei- oder mehrsprachig aufwächst?
Mehrsprachigkeit ist nicht mehr die Ausnahme, sondern stellt immer häufiger die Realität dar. Ein Kind, das sich sprachlich gut entwickelt, ist problemlos in der Lage, mehrere Sprachen auf gutem Niveau zu erlernen.
Trotzdem hält sich der Mythos, dass mehrere Sprachen das kindliche Gehirn überfordern könnten...
Für ein Aufwachsen mit Mehrsprachigkeit braucht es keine „Überintelligenz“. Grundsätzlich ist jedes Kind dazu in der Lage, mehrere Sprachen auf gutem Niveau zu erlernen. Unser Gehirn weist eine so genannte „Plastizität“ auf, das heißt, es ist funktional und strukturell veränderbar. Voraussetzung für ein gutes Aufwachsen mit mehreren Sprachen ist, dass die Kinder in den jeweiligen Sprachen gute, qualitativ hochwertige Sprachvorbilder haben und ausreichend Input bekommen.
Wie ist es, wenn in Bildungseinrichtungen eine zusätzliche Sprache gesprochen wird?
Wichtig ist, dass den Kindern erlaubt ist, in ihrer Sprache zu sprechen. Denn die Kinder nutzen ihre Erstsprache als Ressource um weitere Sprachen zu erlernen. Kinder sind motivierter, weitere Sprachen zu erlernen, wenn ihre Erstsprache geschätzt und akzeptiert wird. Es ist ein Spiegel unserer Zeit, dass in einem Klassenzimmer, in einer Kinderbetreuungseinrichtung viele verschiedene Sprachen gesprochen werden. Man darf sich bewusst machen, dass Mehrsprachigkeit immer mehr zur Regel wird und nicht mehr die Ausnahme darstellt.
Welche Auswirkungen hat eine gute Sprachentwicklung auf den künftigen Ausbildungs- und Berufsweg?
Eine gute Sprachentwicklung ermöglicht eine gute Schullaufbahn. Und eine gute Schullaufbahn ermöglicht, dass ein Kind eher den gewünschten Beruf erlernen kann. Wenn wir hier den Blick in die Arbeitswelt wagen, ist das Beherrschen von mehr als einer Sprache sicherlich von Vorteil, zumal es mehrsprachig aufwachsenden Menschen höchst wahrscheinlich leichter fällt, noch weitere Sprachen dazu zu lernen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Sabine Barbisch